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  • Gina Grimpo

Würfelgeschichte: Schlüsselerlebnis

Die Inspiration zu meinen Würfelgeschichten erhalte ich von den Story Cubes. Jedes Symbol auf dem Würfel wird auf irgendeine Art und Weise in die Geschichte eingebaut. Die Reihenfolge ist dabei egal, wichtig ist nur, dass jedes gewürfelte Symbol mindestens einmal Verwendung findet. Übung im Kampf gegen die Schreibflaute :-)


Lina gähnte. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie erst seit dreißig Minuten an ihrem Schreibtisch saß. Ihrem Gefühl nach war es eine halbe Ewigkeit, die sie damit zubrachte, die Mathehausaufgaben zu lösen. Sie sah auf das Heft mit den karierten Seiten, das aufgeschlagen vor ihr lag. Daneben ein ordentlich angespitzter Bleistift, ein Lineal, ein Zirkel, ein Radiergummi. Alles perfekt symmetrisch nebeneinander ausgerichtet. Die Wasserflasche und das Glas auf dem dunkelroten Untersetzer befanden sich in Reichweite, aus dem Bluetooth-Lautsprecher waren leise Klaviertöne zu hören. Für Entspannung und Konzentration, jedenfalls war das der Plan gewesen. Tatsache war jedoch, dass Lina die vergangenen dreißig Minuten damit verbracht hatte, ihre Arbeitsumgebung bis zur Perfektion einzurichten, sie mit ihrer eigentlichen Arbeit aber kein Stück vorangekommen war.

Mit einem weiteren Gähnen streckte sie sich und rotierte die Schultern.

„Also los, du schaffst das. Geometrie. So schlimm kann das nicht sein.“

Sie nahm einen Schluck Wasser, rieb sich über die müden Augen und zog dann das Arbeitsheft mit den Aufgaben näher an sich heran. Es half nichts, ihr Gehirn weigerte sich, nur einen einzigen klaren Gedanken zuzulassen. Stattdessen wirbelten tausend andere unwichtige Dinge durch ihren Kopf. Wann hatte der Regen angefangen, der kalt und nass an ihre Fensterscheibe trommelte? Die Fensterbank sah auch schon wieder ziemlich staubig aus und könnte den Einsatz eines Staubtuchs vertragen. Außerdem knurrte ihr Magen und das, wo sie sich doch vorgenommen hatte, die Tüte mit den Keksen, die in ihrem Schrank lag, erst zu öffnen, wenn sie diese vermaledeiten Hausaufgaben endlich hinter sich gelassen hatte.

Dazu kam dieses permanente Kichern und Flüstern vor der Tür, dass jegliche Konzentration im Keim erstickte.

Lina stutze und hob den Kopf. Kichern und Flüstern? Das war doch eben noch nicht dagewesen? Oder hatte sie nur nicht darauf geachtet?

Sie schob sich auf ihrem Stuhl sitzend vom Schreibtisch weg und näher an die geschlossene Zimmertür heran. Mit angehaltenem Atem lauschte sie und da war es wieder. Mehrere Stimmen, zu leise, um zu verstehen, was gesagt wurde, die sich angeregt unterhielten, ab und zu ein Kichern, gefolgt von einem Geräusch, das sie als „Pst!“ Interpretierte.

Mit gerunzelter Stirn stand Lina auf und schlich auf ihren Socken zu der Tür. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, denn sie hatte vor wenigen Minuten gehört, wie ihre Eltern ihr einen Abschiedsgruß nach oben gerufen hatten, bevor sie in ihr Auto gestiegen und, weiß der Himmel wohin, gefahren waren. Sie hatten es Lina erzählt, aber diese hatte nur mit halbem Ohr hingehört. Das Übliche eben. Sie würden vermutlich gegen neun zurück sein und hatten selbstverständlich ihr Handy dabei. Für einen dieser obligatorischen Notfälle, der wahrscheinlich nie eintreten würde.

Und dennoch hörte sie jetzt Stimmen. Die sie sich eindeutig nicht einbildete. Ja, sie war müde, aber das lag nicht an zu wenig Schlaf, sondern schlicht daran, dass die Hausaufgaben sie kein bisschen interessierten. Die Stimmen waren da, definitiv.

Sie blieb vor der Tür stehen und presste vorsichtig ein Ohr an das dunkle Holz. Die Stimmen waren leise. Wer auch immer dort draußen war, sie klangen, als würden sie sich nicht direkt vor der Tür aufhalten, sondern sich viel weiter weg befinden. Vielleicht waren sie unten, standen auf der letzten Treppenstufe oder sogar noch im Eingangsbereich. Aber wer waren sie?

Mit gerunzelter Stirn ging Lina in die Knie und blinzelte durch das Schlüsselloch.

Es dauerte etliche Augenblicke, bis ihr Gehirn begriff, was ihr Auge da sah.

Sie hatte den schmalen, gerade frisch renovierten Flur erwartet, mit dem dunklen Teppich und den weiß gestrichenen Wänden. Doch der Flur war verschwunden und mit ihm die Fotos in den Holzrahmen, die ihr Vater zu einer Collage an der Wand gegenüber ihres Zimmers angeordnet hatte. Ebenso wie die Treppe, die zu ihrer linken Seite normalerweise in das untere Stockwerk führte und die Tür zum Badezimmer und zum Schlafzimmer ihrer Eltern auf der rechten Seite.

Sie musste ihren Blick nicht schweifen lassen, um sicherzugehen, dass dies alles nicht mehr vorhanden war. Denn nichts davon konnte noch an Ort und Stelle sein, wenn sich vor ihrem Auge eine grüne Hügellandschaft ausstreckte, die bis an den Horizont und in jede Richtung ragte, die sie einsah. Saftiges Gras, graue Felsen, vereinzelt wie Farbtupfer aus dem Boden ragend, knorrige Bäume und dichte Sträucher. Die Sonne, die unfassbarerweise dort schien, obwohl der Regen nach wie vor an ihr Zimmerfenster trommelte. Sie hob ihren Kopf, schüttelte sich, als könnte sie das, was sie gesehen hatte, von sich herunterwerfen, als wäre es nur ein dummer Traum, der sich an ihr festklammerte und rieb sich dann über die Augen.

Sie lehnte die Stirn an die Tür und saß eine Weile lang da, lauschte ihrem Atem, dem Geräusch des Regens und der Klaviermusik.

Der Himmel ist rosa, schoss es ihr durch den Kopf und sie wunderte sich, dass dies das Einzige war, das ihr an der aktuellen Situation absurd vorkam. Sie sah wieder durchs Schlüsselloch, um sicherzugehen, dass sie sich nicht geirrt hatte. Und tatsächlich, der Himmel, von wattigen Wolkenfetzen durchbrochen, leuchtete im hellen Sonnenlicht in einem wunderschönen altrosa.

Eine Bewegung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie kniff die Augen zusammen, um ihren Blick zu fokussieren und endlich entdeckte sie die Quelle der Stimmen, die sie vernommen hatten.

In einiger Entfernung, so klein, dass man beinahe eine Lupe benötigte, um sie zu entdecken, tummelten sich eine Handvoll kleiner Wesen. Sie wanderten über die grasbewachsenen Hügel, unterhielten sich angeregt und hatten allem Anschein nach nicht die geringste Ahnung, dass sie beobachtet wurden.

Elfen? Feen? Kobolde? Gnome?

Lina hatte sich nie viel aus Fantasy-Romane gemacht, daher konnte sie beim besten Willen nicht sagen, wen oder was sie da vor sich hatte. Zumal die Wesen zu weit weg waren, um sie genauer sehen zu können, was erklärte, warum ihre Stimmen so leise waren.

Eine vollkommen neue Welt war dort hinter der Tür aufgetaucht.

Lina stand auf und sah sich um. Die Matheaufgaben lagen abwartend auf ihrem Schreibtisch, aber die Seiten wirkten, als wüssten sie selbst, das Lina nicht vorhatte, sich ihnen in naher Zukunft zu widmen.

Sie lachte. Hatte sie allen Ernstes eine Reaktion ihres Hausaufgabenheftes erwartet? Andererseits war da diese Hügellandschaft, der rosa Himmel, die strahlende Sonne, die dem Regenwetter draußen trotzte. Wer war sie, dass sie zu entscheiden hatte, was real war und was nicht?

Mit pochendem Herzen klappte sie das Heft zu und fasste einen Entschluss. Mit zwei Schritten war sie an ihrem Bett und schlüpfte in ihre Sneaker, die sie wenige Stunden zuvor achtlos von ihren Füßen gestreift hatte. Was als langweiliges, lernintensives Wochenende zu beginnen drohte, entwickelte sich, ohne dass sie eine Erklärung dafür fand, zu einem Abenteuer.

Nach einem kurzen Zögern steckte sie sich ihr Handy in die Hosentasche, nur für den Notfall, man wusste ja nie.

Dann stellte sie sich vor die Tür, atmete einmal tief durch, drückte die Türklinke nach unten und schloss die Augen. Sie zog die Tür auf, trat über die Schwelle, erwartete den Geruch von Gras und Wind, bildete sich beinahe ein, eine kühle Brise zu spüren, die über ihre nackten Unterarme strich. Doch da war nichts.

Mit gerunzelter Stirn öffnete sie die Augen und sah sich verwirrt um. Weiß gestrichene Wände, dunkler Teppichboden unter ihren Füßen, eine Collage aus Fotos, von denen ihre Eltern und sie im Urlaub, im Freizeitpark, in der Küche, den Betrachter anschauten.

„Nein!“

Sie drehte sich verwirrt um, sah ihr Zimmer, die Holztür, erkannte die Treppe, die nach unten führte. Alles da, wo es sein sollte. Alles, wie es sein sollte.

„Das kann nicht sein. Ich habe mir das doch nicht eingebildet“, murmelte sie, ging zwei Schritte zurück in ihr Zimmer, schloss die Tür, öffnete sie wieder.

Es blieb dabei. Sie war zu Hause und alles daran war, wie es schon immer gewesen war. Langweilig und normal. Lina strich sich die Haare aus dem Gesicht, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Träumte sie? War alles nur Wunschdenken gewesen?

„Zeit für eine Pause.“

Lina erstarrte. Das war nicht sie gewesen, die gesprochen hatte.

Vor Aufregung hielt sie den Atem an, als sie die Tür wieder schloss, vor dem Schlüsselloch in die Knie ging und ihr Augen vor das Loch hielt.

Die kleinen Wesen, es waren fünf an der Zahl mit stämmigen Beinen, knolligen Nasen und spitzen Ohren, hatten sich im Kreis auf den Boden gesetzt und wühlte ein jeder in ihren Rucksäcken herum. Sie waren nun nah genug, dass Lina jeden von ihnen genau betrachten konnte.

Vorsichtig, ohne sich aus ihrer knienden Position zu lösen, öffnete sie die Tür einen Spalt und linste auf die andere Seite. Flur. Normal. Alles beim Alten.

Sie schloss die Tür erneut und sah wieder durch das Schlüsselloch. Oder besser gesagt, in das Schlüsselloch, in dem sich ihr eine völlig neue Welt offenbarte. Eine Welt, die sie nicht betreten konnte.

Noch nicht, dachte Lina und lächelte, während die kleinen Wesen ihre Pausenbrote verzehrten. Aber vielleicht würde sich eines Tages eine Möglichkeit ergeben.

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