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  • Gina Grimpo

Nachbarschaftshilfe / Genre: Krimi

Aktualisiert: 15. Jan. 2023

"Beobachtest du schon wieder die Nachbarn?"

Mühsam löste ich meine Blick vom Fenster und wandte meinen Kopf zur Haustür, die sich vor wenigen Sekunden geöffnet hatte.

Emily warf mir einen tadelnden Blick zu.

"Draußen ist schönstes Wetter, warst du wenigstens einmal spazieren?" Ich gähnte und reckte meine steifen Muskeln.

"Dafür bin ich zu alt", sollte das heißen. Dann erhob ich mich, ignorierte meine schmerzenden Gelenke und folgte Emily in die Küche.

Nach einem Blick in den Kühlschrank meinte sie: "Ich befürchte, heute werden wir um das Restessen nicht herum kommen."

Sie dreht sich zu mir um.

"Pute oder Rind?"

Ich entschied mich für Rind und wenig später ließen wir es uns gemeinsam schmecken.

Ich beobachtete Emily, wie sie an einem Salatblatt kaute und konzentriert die Post durchging und ein Gefühl von Wärme durchströmte mich.

Obwohl Emily Vegetarierin war, bereitet sie mir jedes Mal eine Mahlzeit mit Fleisch zu, weil sie wusste, wie sehr ich es liebte.

Als ich damals bei ihr einzog, trug ich auch noch meinen Teil zum Haushalt bei. Brachte Essen mit, hielt das Haus in Ordnung ...

Doch nun, Jahre später, das ehemals rote Haar von grau durchzogen, merkte ich, dass mir die Kraft dafür fehlte.

Ich ging immer seltener aus dem Haus, schlief lange und oft und ja, ich gestehe, verbrachte Stunden damit, die Nachbarn zu beobachten.

Und auch wenn ich Emily mittlerweile mehr Balast als Nutzen war, durfte ich weiterhin bei ihr wohnen.

Und dafür liebte ich sie.

"Also Gertrud", riss sie mich aus meinen Gedanken, "Bereit für eine neue Gruselgeschichte aus dem Overlook-Hotel?"

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe zu antworten, sondern lief zielstrebig ins Wohnzimmer und Emily folgte mir lachend..

Wir liebten beide gruselige Romane und zur Zeit lasen wir Shining von Stephen King.

Um genauer zu sein: Emily las. Ich lag auf dem Sofa und lauschte gebannt ihrer Stimme. Ich hatte das Lesen nie gelernt und mittlerweile waren meine Augen ohnehin zu schlecht, um es zu versuchen.

Doch Emily störte das nicht und ich erkannte, dass ich trotz all meiner Schläfrigkeit, trotz des Alters, ihr etwas sehr Wichtiges geben konnte: Gesellschaft.

Emily war noch jung, keine dreißig, doch sie hatte weder Mann noch Kinder.

"Gertrud", hatte sie mal gesagt, "es ist so schön, nach Hause zu kommen und zu wissen, du bist da."

Nicht mehr lange, dachte ich wehmütig. Meine Zeit war gekommen, das spürte ich.

Blieben mir noch ein paar Wochen? Möglich.

Ein paar Monate? Vielleicht.

Ein Jahr? Unwahrscheinlich.

Und genau deswegen beobachtete ich seit einiger Zeit verstärkt die Nachbarn.

Was sollte Emily nur ohne mich tun? Ich war daher fest entschlossen, einen Mann für sie zu finden.

Nur mit den Kindern sollte sie sich bitte bis nach meinem Weggang Zeit lassen. Das Geschrei hält man ja im Kopf nicht aus.

Aber einen Mann zu finden durfte ...

Ich stockte. Nachbarn. Mann.

Ich sah Emily an.

"Was hast du??, fragte sie und legte die Stirn in Falten, "geht es dir nicht gut?"

Nachbarn. Mann. Männer.

Meine Gedanken kreisten, unruhig begann ich, auf und ab zu laufen, ohne zu wissen, warum. Ein Bild schob sich vor mein inneres Auge, langsam, wie ein unscharfes Dia-Bild. Mein Magen zog sich zu einem dicken Kloß zusammen.

Irgendetwas war gewesen, Sekunden bevor Emily zur Tür hinein gekommen war. Lang genug, um sich in meinem Gehirn festzukrallen, zu kurz, um einzudringen.

Ich lief zum Fenster.

Denk nach, befahl ich mir selbst und und stampfte wütend auf.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden, das Haus der Nachbarn von Schwärze umhüllt. Nur im oberen Stockwerk flackerte ein unregelmäßiges Licht.

Der Fernseher? Aber der stand im Erdgeschoss. Direkt im Wohnzimmer, welches man von hier aus wunderbar beobachten konnte. Was nicht heißen musste, dass sie sich nicht auch einen für das Schlafzimmer gekauft hatten.

"Gertrud?"

Geld genug hatten sie schließlich. Der Kloß in meinem Magen löste sich langsam auf. Das wird es sein. Zwei Männer waren dort gewesen, das hatte mich irritiert, weil ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Und das in einer Gegend, in der jeder jeden kannte.

Doch sie hatten nur den neuen Fernseher gebracht.

Mit einem Seufzer kehrte ich zu Emily aufs Sofa zurück.

"Zu spannend für dich? Es ist doch nur ein Buch." Ich ließ sie in dem Glauben. Die Wahrheit wäre zu peinlich gewesen. Ich sollte wirklich wieder mehr spazieren gehen und mich um mein eigenes Leben kümmern.

Zwei Männer von der Fernsehfirma, was war schon dabei?

Ich setzte mich hin, nur um Sekunden später wieder aufzuspringen. Erneut rannte ich zum Fenster. Meine Augen suchten die Dunkelheit ab, scannten förmtlich die Umgebung.

Zwei Männer von der Fernsehfirma. Doch wo war der Lieferwagen? Und warum kamen sie erst mit Einbruch der Dunkelheit?

Mein Herz hämmerte aufgeregt gegen die Brust. Ich musste es einfach wissen.

Wortlos rannte ich an einer verdutzten Emily vorbei aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer. Außer Atem sürzte ich zum Fenster und stellte mit Grauen fest, dass ich mit meinen Befürchtungen Recht hatte.

Das flackernde Licht kam von zwei Taschenlampen. Die Lichtstrahle zuckten unruhig hin und her, enthüllten bebende Leiber und ließen sie wieder in Schwärze versinken.

Ein Kampf!

Ich war wie gelähmt, wollte schreien, doch kein Ton kam heraus.

Ich hörte, wie Emily mir von unten etwas zurief, doch der Sinn der Worte drang nicht an mein Ohr.

Du musst es etwas unternehmen, drängte ich mich, das nette Ehepaar von nebenan wird überfallen.

Ein lauter Knall riss mich aus meiner Erstarrung, das hektische Licht erstarb augenblicklich,

"Was ist denn da draußen los?", hörte ich Emily sagen und kurz darauf vernahm ich, wie die Haustür geöffnet wurde.

Zeitgleich kam aus dem Nachbarhaus eine kleine, schmale Frau heraus gerannt, gefolgt von zwei schwarz gekleideten Männern. Einer packte sie brutal an den Haaren und riss sie zurück ins Haus.

Der andere ...

Emily!

Endlich fand ich meine Stimme wieder. Mit einem lauten Warnschrei stürzte ich auf die Treppe zu, stolperte und fiel zu Boden. Meine Schulter knackte schmerzhaft. Für einige Sekungen blieb ich orientierungslos liegen, dann stemmte ich mich wimmernd wieder hoch und humpelte so schnell ich konnte die Treppe hinunter.

Wenige Augenblicke später durchfuhr ein weiterer Knall die Nacht.

Ein Schluchzen stieg meine Kehle hinauf.

Dort im Hausflur, mit weit ausgestreckten Armen, lag Emily rücklings auf dem Boden. Eine große dunkle Pfütze breitete sich unter ihr aus.

Die beiden Männer standen in der Eingangstür.

"Du Idiot", sagte der eine, "wir hatten uns auf Schalldämpfer geeinigt. Du hast die ganze Nachbarschaft geweckt." "Sie hat uns gesehen", erwiderte der andere, "Hätte ich sie laufen lassen sollen?" "Hättest du die anderen beiden sofort mit einem Schalldämpfer-"

"Schon gut, lass sie liegen, wir hauen ab." "Keine Zeugen, hat der Boss gesagt."

"Jaja, ich weiß. Darum hast du dich ja bereits gekümmert. Und nun lass uns verschwinden." "Und was ist mir der hier?" Bevor ich reagiern konnte, packten mich grobe Hände und rissen mich nach oben. Ich verlor den Halt unter den Füßen.

Panisch schrie ich auf, zappelte und zerkratzte dem Man sein ohnehin von Narben übersähtes Gesicht.

Er zuckte nich einmal zusammen, sondern verstärkte nur seinen Griff. Ein weiterer Knochen knackte. Mir wurde übel vor Schmerz und sofort gab ich meine Gegenwehr auf.

Der zweite Mann trat hinzu. Mit einem bösen Blick griff er nach meinem Hals. Ich betete, dass es schnell vorbei sein würde.

"Gertrud." Ein verächtliches Schnauben. "Wie kann man seine Katze nur Gertrud nennen?" Er ließ die Marke an meinem Halsband wieder los.

"Was soll ich mit ihr machen?"

"Lass sie hier, sie wird uns schon nicht verpetzen." Der Mann lachte über seinen eigenen Witz.

Achtlos wurde ich davon geschleudert, prallte mit dem Rücken gegen eine Treppenstufe und blieb benommen liegen.

Die beiden Männer wandten sich zum Gehen.

"... landen immer auf ihren Pfoten. Als ob.", hörte ich den einen sagen.

Dann knallte die Haustür ins Schloss. Ich war allein.

Mit verschwommenen Blick betrachtete ich Emilys leblosen Körper und mit einem Mal kam eine Frage in mir auf und krallte sich mit eisigem Griff um mein Herz.

Was sollte ich nur ohne Emily tun?



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