Es gibt bestimmte Klischees über Frauen. Eines dieser Klischees ist, dass Frauen liebend gerne telefonieren. Manche sollen sogar regelrecht in Ekstase geraten, wenn sie so einen Fernsprechapparat nur klingeln hören. Und dann gibt es mich. Wie bei vielen anderen Frauen beschleunigt sich auch mein Puls, wenn meine Ohren ein vertrautes, bimmelndes Geräusch erreicht. Von Ekstase kann allerdings keine Rede sein und genau genommen empfinde ich dieses körperliche Reaktion auf das geräuschvolle Störelement auch erst seit einem halben Jahr. Vor ziemlich genau sechs Monaten habe ich meiner Mutter das Herz gebrochen, ihr heimtückisch einen Dolch hinein gejagt, sie mit Füßen getreten, als sie schon am Boden lag. Oder, um es in meinen Worten auszudrücken: ich war ausgezogen. Man sollte meinen, dass ab einem bestimmten Alter sowohl Elternteil als auch Kind bereit sind, loszulassen. Meine Mutter ist das auch. Nur ist ihrer Meinung nach dreiundzwanzig noch nicht so ein Alter. Seit einem halben Jahr lebte ich also in meiner Wohnung. Ich sage Wohnung, aber eigentlich gibt es kein Wort, das diesen Zustand beschreiben könnte. Und ebenfalls seit einem halben Jahr lässt das Klingeln meines Telefons meinen Puls in die Höhe schießen. Riefen früher noch meine Freunde an, so ist es heute so gut wie ausschließlich und einzig allein meine Mutter. Sie nennt es Fürsorge. Ich nenne es Kontrollzwang. Und heute war es mal wieder so weit. Ich stand in meiner kleinen Küchenzeile, in einer Hand einen Blaubeermuffin und in der anderen eine Tasse Kaffee. Beides landete abwechselnd in meinem Mund, denn so konnte ich mir die Illusion aufrecht erhalten, dass es mir nicht möglich war, den Hörer abzunehmen. Die Hoffnung, dass es vielleicht auch jemand anderes sein könnte, jemand, mit dem ich reden wollte, verflüchtigte sich nach dem zehnten Klingeln. Nach dem fünfzehnten Klingeln war mein Kaffee alle, nach dem vierundzwanzigsten mein Muffin. Schicksalsergeben griff ich nach dem Hörer. “Hi, Ma.” “Arwen, Spätzchen, ich versuche bestimmt schon seit einer halben Stunde, dich zu erreichen.” Und ich versuche bestimmt schon seit einer halben Stunde, es zu ignorieren. “Ich war unter der Dusche.” “So lange? Du weißt, dass das deine Haut austrocknet. Hast du danach auch Feuchtigkeitscreme benutzt?” “Ja, Ma.” “Und dann diese Wasserkosten. Dabei wirst du doch so schlecht bezahlt.” Wie wahr. “Würdest du noch bei deinem Vater und mir wohnen...” Ich widerstand dem Drang, den Hörer in meiner Hand zu zerquetschen. Na gut, ich geb’s zu. Der Drang war übermächtig, meine Muskelkraft leider nicht. “ ... wie die Tochter von Paula und Heiko. Du kennst doch Paula?” “Klar, Ma.” Tat ich nicht, aber wen interessierte das schon? Ich legte den Hörer zur Seite und kramte im Tiefkühlfach nach einem weiteren Muffin. Ich sollte dringend wieder einkaufen gehen. Statt meinem Lieblingsgebäck fand ich ein Stück Pizza, das ich in die Mikrowelle schob und hielt den Hörer wieder an mein Ohr. “ ... und der Sohn von Herrn Bäumer ist gestern aus Singapur wieder gekommen. Du solltest ihn kennen lernen, er ist sehr ... ” Für einen kurzen Augenblick überlegte ich, das Telefon zu der Pizza in die Mikrowelle zu stecken, ließ es aber dann bleiben. Nicht, dass ich mir Sorgen um das Telefon gemacht hätte, aber außer der Pizza hatte ich nichts Essbares mehr im Haus und deswegen musste dieses letzte Stück mit aller Macht geschützt werden. “Natürlich, Ma.” Wieder legte ich den Hörer zur Seite und starrte gedankenverloren aus dem Fenster. Im Grunde war es gar nicht so schlecht, wenn meine Mutter am Telefon war. Es klingelte nicht andauernd und es reichte, wenn ich sie hin und wieder mit ein, zwei Worten fütterte. Das Klingeln der Mikrowelle war übrigens auch so ein Geräusch, dass meinen Herzschlag beschleunigte, bedeutete es doch, dass ich endlich etwas zwischen die Zähne bekommen würde. Lächelnd schob ich die dampfende Pizza auf einen Teller, nahm das Telefon und setzte mich vor den Fernseher. “ ... hat dort bei einer bedeutenden Bank gearbeitet ... ” “Echt, Ma?” Pizza kauend saß ich auf dem Sofa, schaute mir alte amerikanische Sitcoms an und stellte mit einem Blick auf den Kalender fest, dass es durch eine grausame Fügung des Schicksals morgen schon wieder Montag sein würde. “ ... sieht wirklich gut aus ... ” “Tatsächlich, Ma?” Der Hörer landete wieder neben mir auf dem Sofakissen. Kurz nach dem ich ausgezogen war, hatte ich mir noch die Mühe gemacht, ihrem Gerede Beachtung zu schenken. Es hat mich schon damals nicht interessiert, aber ich dachte, es wäre ziemlich dreist, sie einfach zu ignorieren. Mittlerweile weiß ich es besser. Sie bemerkt es einfach nicht. Aus dem Fernseher tönte künstliches Gelächter, draußen auf der Straße hupten die Autos und ich konnte meine eigenen Kaugeräusche hören. Doch das alles half gar nichts, wenn meine Mutter erst einmal in Fahrt war. Ich bekam nicht mit, was sie sagte, doch es reichte schon zu hören, dass sie überhaupt etwas sagte. Und ohne ihr zuzuhören, wusste ich, worum es wieder ging. Zerrüttete Ehen von Bekannten, Alkoholsucht von Bekannten, missratene Kinder von Bekannten. Sobald es etwas Positives zu berichten gab, wurden diese Bekannten übrigens ganz plötzlich zu guten Freunden. Die Werbepause begann und die Stimme aus dem Hörer wurde mit einem Mal schriller als sonst. Eilig griff ich nach dem Telefon und hielt es an mein Ohr. “Arwen? Arwen, hörst du mir überhaupt zu?” “Klar, Ma.” “Also stimmst du mir zu?” Ich dachte nach. Über was hatte sie zuletzt geredet? Paula, deren missratene Tochter immer noch zu Hause wohnte? Das war es wahrscheinlich. “Aber natürlich stimme ich dir zu. Du hast absolut Recht.” Am anderen Ende der Leitung herrschte für einen Moment Stille und ich begann, mir Sorgen zu machen. Hatte ich etwas Falsches gesagt? “Ach, echt? Du bist derselben Meinung?” “Ja?” Es klang nicht sehr überzeugend und in meiner Magengrube bahnte sich ein ungutes Gefühl an. “Das ist ja großartig, Spätzchen. Ich wusste ja gleich, dass aus deinem letzten One-Night-Stand nichts wird. Der Junge sah zwar ganz nett aus, aber ich kenne doch meine Arwen.” Ich bemühte mich, ruhig zu atmen und schloss die Augen, während ich versuchte, die Erinnerungen daran aus meinem Gedächtnis zu verbannen. “Weißt du schon, was du anziehen wirst?” Ich riss meine Augen wieder auf. “Was?” “Naja, immerhin ist Peter ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, da kann man sich schon ein bisschen rausputzen.” “Peter?” Das ungute Gefühl in meiner Magengrube verstärkte sich. “Du wirst ihn mögen. Herr Bäumer und seine Frau werden natürlich auch kommen.” “Ähm”, machte ich, doch es war bereits zu spät. Meine Unachtsamkeit hatte den Stein ins Rollen gebracht. Ich war ausgezogen und hatte meiner Mutter somit ihre Lebensaufgabe entzogen. Wie es schien, hatte sie nun eine neue. “Ich habe sie für sieben eingeladen, aber du kommst bitte schon früher, damit du mir mit der Quiche helfen kannst.” Helfen? Ich wusste noch nicht einmal, wie sich das schreibt. Und im Moment war es eindeutig ich, die Hilfe brauchte. “Bis Samstag also.” Das klickende Geräusch, als meine Mutter auflegte, gab mir normalerweise allen Grund zur Freude. Dieses Mal hatte ich jedoch das dringende Bedürfnis, schreiend im Kreis zu rennen.
Gina Grimpo
Telefonterror / Genre: Humor
Aktualisiert: 15. Jan. 2023
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