Jeder von uns kennt eine “Nie wieder”-Situation. Nie wieder auf diesen Typen reinfallen, nie wieder Spaghetti essen, wenn man ein weißes Oberteil trägt. Ich dachte mir an diesem viel zu frühen Sonntagmorgen, während ich die Toilettenschüssel aus einer völlig neuen Perspektive kennen lernte: nie wieder Alkohol! Normalerweise trinke ich nie (na gut, fast nie) und in diesem Moment wusste ich auch, warum. Ich lehnte meinen wummernden Kopf an das kühle Porzellan und stöhnte. Die Spülung rauschte unnatürlich laut durch meine Gehirnwindungen. Langsam zog ich mich am Waschbecken hoch und schrubbte mir mit so viel Zahnpasta wie möglich die Zähne, um den schlechten Geschmack in meinem Mund loszuwerden. Zum Glück hatte ich das Licht nicht angemacht. Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen eigenen Anblick ertragen konnte. Als ich aus dem Badezimmer wankte, kniff ich die Augen zusammen. Die Sonne schien durch mein Panoramafenster direkt in meine winzige Wohnung. Es war, als würde sie mit Messern direkt in meine Augen werfen. "Fahr zur Hölle." Ich stöhnte erneut. Im Selbstmitleid haben bin ich echt gut. Gerade tapste ich zurück in Richtung Schlafzimmer, fest entschlossen, es an diesem Tag nur im äußersten Notfall wieder zu verlassen, als ich ein Stöhnen hörte. Und dieses Mal kam es definitiv nicht von mir. Einbrecher, schoss es mir als erstes durch den Kopf. Doch den Gedanken verwarf ich schnell wieder. Jeder Einbrecher, der meine Absteige sah, würde aus Mitleid noch etwas von seinem letzten Raubzug dalassen. Vorsichtig trat ich einen Schritt näher an meine halb geöffnete Schlafzimmertür heran. Jetzt hörte ich ein Knarzen. Und zwar eines, das mir sehr bekannt vorkam. Genauso klang mein Bett, wenn ich mich darin umdrehte. Ich wohnte alleine, wer zum Teufel lag also in meinem Bett während ich hier draußen stand und fror? Schließlich wagte ich den entscheidenden Schritt und linste in mein Schlafzimmer. Was ich dort sah, veranlasste mich um ein Haar dazu, erneut ins Badezimmer zu rennen. Schwindel erfasste mich und ich hielt mich schwankend am Türrahmen fest. Jetzt hatte ich die Gewissheit. Kein Einbrecher! Ein Einbrecher lag nicht nackt und mit zerwühlten Haaren zwischen ebenso zerwühlten Bettlaken und schnarchte leise vor sich hin. Verdammt! Ich lehnte mich gegen die Wand und stellte zweierlei fest, als ich die Raufasertapete mit meinen Schultern fühlen konnte. Ich war a) ebenfalls nackt und hatte b) bereits die ganze Zeit so vor meinem Fenster gestanden. Konnte ich es wagen, ins Schlafzimmer zu schleichen und mit etwas zum Anziehen aus dem Kleiderschrank zu holen? Oder wenigstens die Sachen zu schnappen, die über den Boden verteilt lagen? Ich entschied mich dagegen. Nicht, dass der Kerl noch wach wurde. Statt dessen lief ich ins Badezimmer und wickelte mich in ein großes Handtuch ein. Als ich das Bad verließ, entdeckte ich meinen BH, der auf der Sofalehne hing. Wieso lag das Teil hier und der Rest meiner Sachen im Schlafzimmer? Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, setzte mich an den Küchentisch, legte meinen Kopf auf die Tischplatte und versuchte, mich an den vergangenen Abend zu erinnern. Mit Lola getroffen, Sektflasche gekillt, ins Irish Pub gegangen, diverse Whiskey-Mischungen probiert und dann - “Guten Morgen!” Ich schreckte hoch. Das Erste, was ich sah, war ein unverschämtes aber auch unverschämt sexy Lächeln. Mein Blick glitt nach unten über breite Schultern, einen ansehnlichen Waschbrettbauch und weiter nach unten... Erleichtert stellte ich fest, dass der Kerl sich wenigstens eine Hose angezogen hatte. Wenn mir nur sein Name einfallen würde ... Ich musste kurz innehalten, um zu überlegen, ob ich meinen eigenen Namen noch wusste. Da das der Fall war, konnte der Alkoholkonsum am Vorabend doch nicht so schlimm gewesen sein wie befürchtet. Der meiner Mutter, als sie sich den Namen aussuchte, wahrscheinlich schon. Sie ist ein großer Fan der Herr der Ringe-Trilogie, und vor allem liebt sie die Elbin Arwen. Diese Leidenschaft geht so weit, dass ihre einzige Tochter zwecks Namengebung darunter leiden muss. Doch das war im Moment mein geringstes Problem. In meiner Küche stand ein halbnackter Mann, der mich frech angrinste und offensichtlich erwartete, dass ich etwas sagte. “Hi”, kiekste ich schließlich und grabschte dann hastig nach meinem rutschenden Handtuch. “Kein Frühstück im Bett?”, fragte der Typ und ich ging im Kopf hastig sämtliche Namen durch, die mir einfielen. Ben? Nein. Florian? Auch nicht. Gandalf? Sei ruhig, Ma! Es war zwecklos. Keiner der Namen löste Erkennen in mir aus. Sollte ich so tun, als wüsste ich noch alles, was letzte Nacht passiert war? Bei ihm schien es der Fall zu sein. Mist, Mist, Mist! Nie wieder Alkohol. Nie wieder. Er beugte sich zu mir herunter. Ich sah in seine eisblauen Augen und mir wurde schon wieder ganz schwindelig. “Du hast keine Ahnung, wer ich bin, hab ich recht?” Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. “Naja, also...ich...äh...” Ach verdammt, warum fiel mir nur nichts Vernünftiges ein, was ich erwidern konnte? Der Typ grinste immer noch. “Letzte Nacht warst du nicht so unsicher.” Na toll, wahrscheinlich hatte ich gestern den Sex meines Lebens und erinnerte mich noch nicht mal daran. Warum hab ich ihn mit zu mir genommen? Warum waren wir nicht zu ihm gegangen? Dann hätte ich mich aus dem Staub machen können, ohne dass er etwas bemerkt hätte. Warum machte er sich nicht aus dem Staub, verdammt? Statt dessen schob er sich an mir vorbei und begann, mit der Kaffeemaschine zu hantieren. “Aaach”, machte ich und versuchte dabei, so gelassen wie möglich zu klingen, “Du bleibst noch?” “Stefan”, sagte er und drehte sich schwungvoll zu mir um. Ich blinzelte. “Was?” “Stefan”, wiederholte er, “das ist der Name, der dir nicht einfallen will.” Ich merkte, wie mir Röte erneut in den Kopf stieg. Wie kam ich nur aus dieser Situation wieder raus? “Also Stefan”, begann ich und stellte mit Unbehagen fest, dass er begann, den Frühstückstisch zu decken. Oh Mann! “Du bleibst noch?” “Das hast du schon mal gefragt.” Ja, aber da war es noch als “Hilfe, du bleibst noch?” und nicht als “Sieh zu, dass du deinen Hintern hier raus bewegst!” gedacht.
Meine Gedanken rasten: Lola, Sekt, Irish Pub, der Barkeeper ... Moment mal. Stefan schob mir eine Tasse Kaffee zu. “Hatte selten einen so netten Feierabend verbracht.” Er zwinkerte mir zu. Herrgott nochmal, warum hatte er nicht einfach das Arschloch spielen und ohne Nachricht oder Telefonnummer verschwinden können? Ich stand auf. “Hör mal, du scheinst ja wirklich sehr nett zu sein und so...”, warum nur führte ich mich auf, wie ein Teenie, der zum ersten Mal in seinem Leben eine Beziehung beendet?, “aber du musst jetzt wirklich gehen.” Er schien ernsthaft enttäuscht. “Warum? Wir hatten doch so viel Spaß zusammen.” Er kam näher. Schmeiß ihn raus! Noch näher. Wow, hat er diese blauen Augen schon die ganze Zeit gehabt? Noch näher. Und diese Grübchen? “Du musst wirklich gehen”, nuschelte ich, was gar nicht so einfach war, da seine Lippen meine bedeckten. Du musst lernen, dich durchzusetzen. Sei ruhig Ma! “Warum?”, fragte er erneut. Mein Handtuch fiel zu Boden. Ja, warum eigentlich? Ein Geräusch hinter der Haustür. Bestimmt nur die Nachbarn. Doch dann: “Arwen, Spätzchen, bist du angezogen?”, gefolgt von einem ironischen Lachen, das ich nur allzu gut kannte. Ich rechnete mir aus, ob ich es schaffen würde, die Sicherheitskette vor die Tür zu legen, bevor diese sich öffnete und kam zu dem Schluss, dass mir nur eine Möglichkeit blieb: Meiner Nie-wieder-Liste einen weiteren Punkt hinzufügen. Nie wieder meiner Mutter einen Zweitschlüssel zu meiner Wohnung geben.
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